Vieles fliesst in den Biografien von Edith und Helmut Steiner-Nördlinger zusammen: das erfolgreiche Unternehmertum der Familie Steiner im württembergischen Laupheim, die Verschmelzung von jüdischer und deutscher Identität, die Ausgrenzung und Verfolgung durch die Nationalsozialisten, die das Paar schliesslich in die Schweiz treibt.

Helmut, Sohn einer angesehenen Gerberfamilie

1899 in Laupheim, 23 Kilometer südlich von Ulm, grösste jüdische Gemeinde im Königreich Württemberg mit einem Viertel Bevölkerungsanteil: Am 20. September kommt Helmut Steiner als zweitältestes Kind von Simon und Melanie Steiner-Herz zur Welt. Sein Vater besitzt die bedeutendste örtliche Lederfabrik, einen der ersten Betriebe mit Dampfkessel und Dampfmaschine. Vater und Mutter sind im jüdischen Leben Laupheims sehr aktiv. Er leitet die Armenkasse und die Stiftung «Matanb’seter» («Gib im Stillen»), kümmert sich um den jüdischen Friedhof und singt im Gesangsverein «Frohsinn». Sie hilft Bedürftigen. Beide lieben Kultur und Tradition. Die ganze Familie ist musikalisch, Helmut lernt Geige.

«Wehre den Anfängen»

Klassische Bildung steht bei Steiners hoch im Kurs. Der 14-jährige Helmut erhält von Vater Simon zum Examen folgerichtig einen lateinischen Leitspruch: «Was auch immer du tust, handle klug und bedenke das Ende – wehre den Anfängen.» Die Berufswahl ergibt sich aus der Familie, keine Frage, dass Helmut das Gerberhandwerk lernt. 1915 – erst 16-jährig – verunfallt er schwer, sein rechter Unterarm wird in einer Maschine eingeklemmt und muss amputiert werden. Helmut lässt sich davon nicht entmutigen. Er lernt alles neu mit links: Arbeiten, Schreiben, Rasieren und auch – mit Begeisterung – Autofahren.

Als Einarmiger wird er nicht in den Kriegsdienst eingezogen. Der fehlende Arm habe ihm das Leben gerettet, wird er noch oft sagen.

1924 schafft Helmut das Gerbermeister-Diplom, aber er hat Pech. Sein Handwerk ist im Niedergang, erschwerend hinzu kommen die wirtschaftlichen Herausforderungen der Nachkriegszeit wie die Hyperinflation. Helmut sattelt darum auf Hopfen um, einen Geschäftszweig, den Verwandte in Laupheim und New York betreiben. 1926 tritt er ins Laupheimer Hopfengewerbe ein und wird bald als Geschäftsführer für das europäische Geschäft verantwortlich.

Edith, Tochter eines bekannten Stickereifabrikanten in St. Gallen

1. Juli 1900, Edith Nördlinger wird in St. Gallen geboren. Ihre Mutter Martha, geborene Goldberg, ist Amerikanerin, geboren in Las Vegas. Ihr Vater Isaac Nördlinger, ein Stickereifachmann, ist in jungen Jahren von Laupheim nach St. Gallen ausgewandert. Isaac leitet lange Zeit eines der wichtigsten Unternehmen der St. Galler Stickereiindustrie, I.D. Einstein.

Mutter Martha stirbt früh, Edith ist noch nicht achtjährig, und eine amerikanische Tante wird zur Ersatzmutter. 1923 wird Edith als Kindergärtnerin diplomiert. Später erwirbt die Sprachbegabte ein weiteres Diplom: als Englischlehrerin.

Das junge Paar

Edith und Helmut kennen sich bereits im Kindesalter. Die Steiners und die Nördlingers sind nicht nur eng befreundet, sondern auch verwandt: Helmuts Vater und Ediths Vater sind Cousins. Aus Verwandt- und Freundschaft wird Liebe. Im Februar 1927 heiraten Edith und Helmut in St. Gallen. Das Paar zieht nach Laupheim. 1931 wird Sohn Heinrich geboren. Als zweites Kind folgt 1935 Tochter Martha (Martina).

Edith und Helmut auf ihrer Hochzeitsreise, Hollywood 1927 © privat
Edith und Helmut auf ihrer Hochzeitsreise, Hollywood 1927 © privat

Ausgrenzung und Verfolgung

Das Leben in Deutschland wird für die Steiners immer schwieriger. Die Nationalsozialisten unterstellen Helmuts Vater Betrügereien. Infolge eines erzwungenen «Geständnisses» kommt Gerbermeister Simon Steiner ins Gefängnis, wo er so schwer erkrankt, dass er 1937 stirbt. Sohn Helmuts Leben wird auch zur Qual: «Für mich selbst (…) wurde die Tätigkeit von Tag zu Tag fürchterlicher, speziell dadurch, dass ein Kollege in der Geschäftsleitung sich zu einem rasanten Antisemiten entwickelte.» Aus einem friedlichen jüdisch-christlichen Miteinander entstehen in Laupheim Ausgrenzung und Verfolgung.

Ernst Bergmann, ein Neffe Helmuts erinnert sich: «Wir waren ja immer mehr Deutsche, und zum Beispiel an Ostern, am jüdischen Pesach, da liest man in der Haggada: ‹Das nächste Jahr in Jerusalem!› und mein Großvater hat geflüstert, jedes Jahr: ‹Das sagen wir nicht! Wir sind Deutsche!› Obwohl er Gemeindepräsident und alles Leben bei uns im Haus jüdisch war. (…) Aber dies alles änderte sich schnell 1933, als Hitler an die Macht kam und mit ihm wechselte das ganze politische Klima in Deutschland. Am 1. April 1933 erschienen SA-Leute vor den jüdischen Geschäften mit Tafeln, um die Bevölkerung aufzufordern, diese zu boykottieren. So einer stand auch vor der Gerberei.»

Emigration in die Schweiz

1936, im Jahr vor Vaters Tod, wandern Edith und Helmut in Ediths Heimat nach St. Gallen aus. Sie können wenigstens ihren gesamten Hausrat mitnehmen. In der Schweiz gründet Helmut die Steiner Hopfen GmbH, die er von 1939 bis 1945 schliesst, da er keinerlei Geschäftsbeziehung mit Nazideutschland will. Stattdessen engagieren sich Helmut und Edith in der jüdischen Gemeinde St. Gallens und nehmen nicht nur Verwandte aus Laupheim auf, die vor dem Krieg in die Schweiz flüchten, sondern auch jüdische Flüchtlingskinder.

Der erste Rückkehrer nach Laupheim, ein Versöhner

Gleich nach dem Krieg zieht es Helmut wieder nach Deutschland. Er ist, sagt man, der erste vertriebene Jude, der nach Laupheim zurückkehrt. Sein Stammhaus will der Unternehmer rasch sanieren. Während der ersten Zeit kann Helmut auf dem Sofa eines ehemaligen Nachbars, Metzgermeister Otto Volz, schlafen, bis das erste Hotel wieder öffnet. Wenig ist von der Hopfenfirma übriggeblieben. Die Nazis haben fast alles zerstört und gestohlen. Mit «unsagbar grossen Schwierigkeiten» schafft Helmut den Wiederaufbau.

Mit gleicher Schaffenskraft nimmt er sich der ehemaligen jüdischen Gemeinde an. Während viele in Laupheim nach dem Krieg nichts von Vergangenheit und Mitschuld wissen wollen, während Verschweigen und Verdrängen vorherrschen, tut Helmut das Gegenteil. Er steht für Versöhnung und Gedenken, stellt den jüdischen Friedhof wieder her, setzt würdige Grabesruhe für Nazi-Opfer durch, lässt eine Gedenktafel anbringen mit der Inschrift: «Diese neue Tafel sei dem Andenken an die jüdischen Opfer jener Schreckenszeit gewidmet. Friede walte künftig über dieser Stätte.»

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Edith und Helmut Steiner in St. Gallen, 1960er Jahre © privat

Ein offenes Haus in St. Gallen

Bei allem Engagement in und für Laupheim: St. Gallen bleibt für Edith und Helmut Steiner bis zuletzt ihr Wohnort. Sie geniessen den Alltag in ihrem selbst gebauten Wohnhaus auf einem St. Galler Hügel, in dem sie oft und gern Besucherinnen und Besucher aus der ganzen Welt zu Gast haben.

Steiners internationales Hopfengeschäft mit Basis in Deutschland und den USA floriert. Hopsteiner gehört nach eigenen Angaben zu den «grössten Handelshäusern mit eigenen Hopfenfarmen und Veredelungswerken» – noch heute. 1969 geht Helmut in Pension.

1988 stirbt Edith kurz vor ihrem 88. Geburtstag. Ein Jahr nach ihrem Tod beschliesst Helmut, einen Teil des gemeinsamen Vermögens in eine Stiftung einzubringen, die bedrohten Jüdinnen und Juden in einer zukünftigen Notlage helfen soll. In einem Brief an seine Kinder schreibt er:

«Ihr werdet vielleicht finden, mein Anliegen sei pessimistisch geprägt. Wenn ich heute die allgemeine Haltung gegenüber Asylanten und Flüchtlingen sehe, die mich in Vielem an damals erinnert, so fürchte ich, dass wenn jemals wieder Juden in grösserer Zahl bedroht sind, es ihnen ähnlich ergehen könnte. Sollte, was ich natürlich hoffe, in den kommenden Jahrzehnten kein Fall eintreten, in dem das Geld eingesetzt werden kann und muss, so dient der Fonds als Mahnung, nie zu früh zu sagen: Das Boot ist voll oder Wir können nicht noch mehr helfen. Der Fonds soll das Nochmehr finanzieren.» Helmut Steiner, Stifter, 1989

1992 stirbt Helmut. Die Lokalpresse schreibt im Nachruf: «Bis in die letzten Jahre waren seine grosse Persönlichkeit, sein erfrischender Geist und seine Warmherzigkeit für jeden zu spüren, der Helmut Steiner begegnete.»

Ihre Warmherzigkeit und ihr Engagement haben Edith und Helmut auch ihren Kindern und Enkelkindern weitergegeben. Sohn Heinrich und Tochter Martina gründen 1993 die Stiftung Edith und Helmut Steiner gemäss Helmuts Wunsch.

Quellen: www.gedenk-buch.de, www.hohenemsgenealogie.at